Die Tabakmkühle als technisches Denkmal, eine originelle, wenn nicht einzige Anlage dieser Art in Thüringen und darüber hinaus
1767 wurde, aus Franken kommend, der Holländer Handelskaufmann Levinus van Wynendael, Bürger in Erfurt. Hier im "Güldenen Rad", wo er zunächst ein Materialwarengeschäft übernahm, gründete er die erste Tabakfabrik in Erfurt. Die Zahl 1767, ein Ankerzeichen und die Namensinitialen LVW auf einem Scheitelstein stammen noch von dem Anbau des barocken Verkaufsladens an die Renaissancefassade. Wenn man bedenkt, daß Schnupf- und Rauchtabakfabriken in Deutschland etwa in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert entstanden sind, allgemein erst nach 1800, so ist Erfurt eine recht frühe Gründung. Mehr noch, die Wynendaelsche Tabakfabrik entwickelt sich zum einzig wirklichen Großbetrieb in jener Zeit in Erfurt. 1775 übernahm der aus Arnstadt zugezogene Kaufmann Ernst Gottlob Hoffmann die Fabrik des Wynendael. 1788 trat der Fabrikant Friedrich Treibel aus Bossleben als Kompagnon mit in die Firma ein. Diese Tabakfabrik der Gebrüder Hoffmann und Triebel war "in Deutschland rühmlichst bekannt" (Hartung) und bestand bis ins 19. Jh. Die Fabrikation bestand hauptsächlich in feinen Karotten (Rollen der ausgerupften Tabakblätter, die der Gärung unterworfen wurden) und in über hundert Sorten von Rauch- und Schnupftabak. Eine "Rossmühle" (gemeint ist der Rundgang-Göpel, die Tabakmühle), Papiermühlen und etwa 6-7 Schneidebänke waren da ständig in Betrieb. Außerdem ist noch bekannt, daß ein Röstraum vorhanden war, der neben der Tabakmühle gelegen haben muß. Die Zufahrt zur Tabakfabrik wird vor allem durch die Markstraße 50, von der Allerheiligenstraße her erfolgt sein. Abgesehen von den Gebäuden ist von der ehemaligen Tabakfabrik das Kernstück, die Tabakmühle, in wesentlichen Teilen noch vorhanden. Sie beansprucht ihr Haus, das in den Grundmauern noch gotische Reste aufweist, fast vollkommen für sich allein. Da steht noch der Kollergang mit den zwei großen, umlaufenden Steinen, da liegt noch die Wanne, eine Mahlfläche in Form eines mächtigen Waidsteines, und da ist auch noch der stehende Wellenbaum mit dem daran befestigen hölzernen Kammrad. Der Standort des einige Meter entfernten Göpels, die kreisförmige Pflasterung und die Tränke für das Pferd sind ebenfalls noch erhalten. Alle übrigen Teile des Antriebes fehlen., können jedoch rekonstruiert und von fachkundiger Hand nachgebaut werden.
Den Antrieb des Kollerganges und den Mahlvorgang muß man sich etwa so vorstellen: Der Umlauf-Göpel, eine stehende Holzwelle, wurde durch Pferdekraft in Bewegung gesetzt. Von einem an der Welle oben angebrachten Stockgetriebe ist dann die Bewegungskraft auf ein Kammrad an einer liegenden Welle übertragen worden. Ein am anderen Ende dieser Welle sitzendes zweites Stockgetriebe griff wiederum in das am Wellenbaum vorhandene große Kammrad ein, wodurch der Kollergang in Umlauf gesetzt wurde. Die Mahlsteine schließlich zerkleinerten den auf der Steinwanne liegenden Tabak (Siehe Grundrißskizze.)
Infolge des Dreißigjährigen Krieges und der Reichszersplitterung war noch zur Zeit der Gründung des Tabakfabrik die Leistungsfähigkeit des Erfurter Gewerbes äußerst schwach. Unter dem Statthalter Dalberg zeigte sich zur Jahrhundertwende eine gewisse Belebung, doch schadeten zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder die Handelsbeschränkungen durch Napoleon. Trotzdem behielt die Stadt mit ihrem Handelsaustausch, vor allem in Textilien und Schuhwaren, die zentrale Stellung innerhalb des thüringischen Handels.
Die Tabakwaren wurden im innerdeutschen Handel abgesetzt. Auf Grund ihrer Qualität - ihr besonderer Vorzug - bildeten sie einen wesentlichen Bestandteil der von Erfurt ausgeführten Waren. Um 1800 betrug der Umsatz an Tabakwaren nach auswärts jährlich etwa 60000 Taler - das ist ein ganz beachtlicher Wert. "Übrigens glauben wir überzeugt zu sein, daß uns keine andere Fabrik in Rücksicht der Qualität und der Solidität der Ware übertreffen wird" - so die Stellungnahme der Triebelschen Fabrik dazu. Selbstverständlich gehörten Hoffmann und Triebel zu den rührigen Kaufleuten und Fabrikanten, "welche auswärtige Messen bezogen". Die Fabrik beschaffte sich ihren Rohtabak um die Jahrhundertwende aus Hamburg, Bremen, Lübeck, Nürnberg, Duderstadt, aus der Pfalz und aus Ungarn. Der Tabakanbau, der um 1700 in Erfurt vorgenommen wurde, war um 1750 bereits wieder eingegangen bis auf einen Rest als Gartenzierpflanzen. Ausgeführt wurden die Tabakwaren von Erfurt in die umliegenden thüringischen Städte, weiterhin nach Breslau, Hamburg, Bremen, Braunschweig, Nürnberg, Bamberg, nach Franken, Hessen und ins Voigtland. 1840 wurden 6023 Zentner Tabak eingeführt und 1014 Zentner in der Stadt verbraucht. Die Beschäftigungszahl der Tabakfabrik stieg in den Jahren von 1790-1840 von etwa 20 auf 70 an. Außerdem wurden 6 Pferde zum Arbeiten benötigt. In der Folgezeit entstanden noch zwei neue Betriebe in der Stadt, die 1867 etwa 200, 1875etwa 325 Arbeiter beschäftigen. Damals hatten "Bernhard und Ferdinand Hoffmann eine besondere Krankenkasse eingerichtet, die von den Inhabern unterstützt und geführt, dem Arbeiter im Krankheitsfalle eine wöchentliche Unterstützung zusicherte".
Mit 32 Dampfmaschinen im Jahre 1867, also genau vor hundert Jahren, hatte sich auch in Erfurt das Industriezeitalter allmählich durchgesetzt. Die Technik drängte das zünftige Handwerk immer mehr zurück.
Die Tabakmühle ist, trotz des Verschwindens der Tabakfabrik, Teil eines großen Zusammenhangs geblieben. Sie besitzt keinen künstlerischen Wert, dafür aber Aussagekraft für die Entwicklung der Technik, für die Geschichte der Produktionsmittel, Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse. Ohne Zweifel ist sie eine originelle, wenn nicht einzige Anlage dieser Art in Thüringen und darüber hinaus. Das bedeutet aber auch, daß alles getan werden muß, um die Mühle in der spezifischen Umgebung zu erhalten und zu pflegen. Bergbau und Hüttenanlagen, Brücken, Mühlen und viele andere Arten von technischen Denkmalen stehen unter Schutz, um sie der Bildung zugänglich zu erhalten. Warum soll nicht auch die Tabakmühle in ihrer baulich interessanten Umgebung erhalten werden? - in einer Stadt mit großer Tradition des Mühlenwesens und des Gartenbaues, in einem Land mit Tabakanbau und Tabakindustrie vom Werratal über Eisenach, Mühlhausen bis Nordhausen. Als Studienobjekt ist Tabakmühle nach ihrer Wiederherstellung sicher bestens mit für die Bildungs- und Erziehungsarbeit der Schulen und Museen geeignet. Das sollte besser als bisher erkannt werden.
Bildunterschriften:
1. Grundriß der Tabakmühle in der Marktstraße 50 (Aufmaß/Seifert)
2. Der noch gut erhaltene Kollergang der Tabakmühle. Das Äußere des Gebäudes wurde 1966 von Feierabendbrigaden wieder hergerichtet (Foto: Institut für Denkmalspflege)
(Erfurter Wochenzeitung. 04.10.1967)