Rund um die Engelsburg I

Mittwoch, 20. September 1967

Ein Stück Erfurter Geschichte vom Kloster zum Patrizier- und Humanistensitz bis hin zur Rauch- und Schnupftabakfabrik Hoffmann u. Triebel

Der Direktor des Angermuseums, Karl Römpler, schrieb als Vorsitzender der Ständigen Kommission Kultur in seinem Beitrag zur Perspektive unserer Stadt Erfurt in der "ewz" am 6. Juni: "Ist die Altstadt durchweg attraktiv?" unter anderem: "... im Augenblick ist unsere Altstadt weder attraktiv noch gibt es die notwendige Konzentration auf den Bereich der wirklichen Denkmäler der Vergangenheit. Die Altstadt bleibt ein lebendiges Denkmal der schöpferischen Kräfte unserer Vorfahren, steingewordene Geschichte und Verpflichtung, mit gleicher Phantasie und Schöpferkraft an dieser Stadt weiter zu bauen ..."
Die nachstehende Arbeit des Leiters des Instituts für Denkmalspflege Erfurt, Kaiser, enthält Vorschläge und Anregungen, die wir für so bemerkenswert halten, daß sie bei der Gestaltung der Innenstadt beachtet werden.
In dem ehem. Patrizieranwesen "Zum Güldenen Rad" (Marktstrasse 50) steht noch heute in einem alten Hintergebäude eine Tabakmühle aus dem 18. Jh. Sie ist, abgesehen von den weiteren ungenutzen alten Gebäuden hier und auf dem Grundstück der "Engelsburg", der Rest einer früheren Schnupf- und Rauchtabakfabrik großen Ausmaßes. Die Mühle, ihre ursprüngliche Funktion, die Wirtschafts- und kulturgeschichtliche Bedeutung dieser Produktionsstätte war bisher weitgehend vergessen oder unterschätzt worden.
Vor einigen Jahren erfolgte in dem baulich vernachlässigten Grundstück ein größerer Abriß, der ein Nachbargebäude und das Mühlengebäude selbst betroffen hat. Es bestand die Gefahr, daß die Tabakmühle mit der benachbarten Bausubstanz endgültig dem Verfall preisgegeben ist. Da schaltete sich das Institut für Denkmalspflege ein und in Zusammenarbeit mit der Kommunalen Wohnungsverwaltung, dem Architekten Fietsch und Feierabendbrigaden wurde seit 1966 der Wiederaufbau des Gebäudes zur Sicherung der Mühle betrieben.
Die Beweggründe zur Erhaltung der Tabakmühle und ihrer Behausung liegen zunächst in der Bedeutung dieses wertvollen technischen Denkmals selbst. Es soll der ursprüngliche Standort der Mühle im Bereich der Tabakfabrik und in sinnvoller Beziehung zur früheren gewerblichen Umgebung erhalten werden. Des weiteren ist in dem architektonisch, baugeschichtlich und historisch bedeutsamen Komplex um die "Engelsburg" ein Anziehungspunkt zurückzugewinnen, nachdem dort in Laufe der Zeit schon so viel verlorengegangen ist. Mit Rücksicht auf die städtebauliche Gesamtsituation des Quartiers im Zentrum der Altstadt kann damit außerdem ein Anfang zur notwendigen Gebäudesanierung und Verbesserung der Nutzung gemacht werden. Die Engelsburg und ihre noch stehenden Nebengebäude gehörten früher genau so zur Tabakfabrik wie das "Güldene Rad" mit den Hofgebäuden. Seit 1493 war die Engelsburg nachweislich bürgerliches Wohnhaus und gehörte dem Handelsmann Heinrich Speter, dem Schwiegervater des Humanisten und "Ovid der Deutschen" Eobanus Hessus. 1519 gelangte das Haus in den Besitz des Dr. med. Georg Sturz. Er war der Sohn eines reichen Silberbergwerkbesitzers bei Annaberg, Rektor der Erfurter Universität und Mäzen der Erfurter Humanisten. (Sein Grabstein wurde übrigens vor Jahren bei der Wiederherstellung der Predigerkirche im Erdreich gefunden und dort aufgestellt). Als Arzt und Freund hat er Luther - einst Mönch im Augustinerkloster und Student der hiesigen Universität - bei einer Erkrankung auf der Durchreise in der Engelsburg kuriert. In dem größten Fachwerkgebäude an der malerischen Kirchhofgasse hatte Sturtz schon bald den bei ihm verkehrenden Vertretern der europäischen Geistesbewegung wider die Scholastik, den Humanisten, einen bildergeschmückten Saal eingerichtet, eine Bohlenstube mit erkerartiger Ausragung.
In allen diesen Nebengebäuden und in den alten Kelleranlagen laufen zur Zeit Instandsetzungsarbeiten zur Einrichtung eines Studentenklubs der Medizinischen Akademie. Die übrigen vorwiegend barocken Bürgerhäuser an der Kirchhofgasse - in den Vorgängerbauten zur Markstraße hin saßen im 16. Jh. die bekannten Glockengießer Eckart Kuchler und Michael Möring - gehörten früher zum "Güldenen Rad" in der Marktstraße 50, seit 1792 erst zur Engelsburg. Die gegenseitige besitzmäßige Durchdringung der beiden großen Grundstücke zeigte sich auch schon 1530, als der Eigentümer des "Güldenen Rades" Dr. Ludwig von Rayn (Mitexaminant Luthers), auch die "Engelsburg" in seinem Besitz hatte. Der gesamte Gebäudekomplex umfaßte früher einmal über 20 Gebäude und über 10 Höfe. - Das Patrizierhaus "Zum Güldenen Rad", immer im Besitz eines Biereigen oder Händlers, wurde 1551 neu gebaut oder umgebaut. Dieses Giebelhaus ist baugeschichtlich ebenfalls äußerst interessant. Die Renaissancefassade weist nach der Marktstraße; ältere gotische Bauteile, turmartig und gewölbt, sind hinten mit einbezogen. Mehrere z.T. massive und aus Fachwerk bestehende Hintergebäude nahe der Tabakmühle umschließen einen weiteren großen Hof im Bereich der Tabakfabrik. Das unweit des Fabrikbereiches stehende Haus "Zum großen Pflug und großen Siebenbürgen" (Marktstraße 21) kann im Zusammenhang mit der Tabakfabrik nicht unerwähnt bleiben. Es handelt sich um das sogenannte "Hoffmannsche Haus", eines der schönsten Bürgerhäuser der Stadt, das 1797 von dem Tabakfabrikanten Johann Bernhard Hoffmann erworben wurde und seitdem im Besitz dieser Familie ist. Die Tabakfabrik von Hoffmann und Triebel hatte eine respektable Ausdehnung, wenn sie auch nicht mehr in allem eindeutig zu begrenzen ist. Wie man aber auch erkennt, bietet die bauliche Umgebung der Allerheiligenkirche, der Engelsburg, des "Güldenen Rades" mit der Tabakmühle und der Waagegassenhäuser vielerlei Möglichkeiten für die bauliche Wiederherstellung, Verbesserung der Nutzung in praktischer und ideeller Hinsicht. Voraussetzung dafür aber ist, daß dort in viel stärkerem Maße als bisher Maßnahmen für die bauliche Wiederherstellung, Verbesserung der Nutzung und räumlichen Gestaltung vorgenommen werden.
Dies müßte natürlich im Rahmen eines Werterhaltungs- und Sanierungsprogramms der Stadt erfolgen. Deutliche ist jedenfalls, daß an dieser traditionsreichen Stätte interessante Erlebnisbereiche erhalten werden könnten, mit historischen Beziehungen zum geistigen Leben, zum Handel, Gewerbe und Bürgertum, zur Universität, zum Humanismus und zum anbrechenden Industriezeitalter. Der Einheimische wie der Tourist wäre für ein solches lebendiges Stück geistes- und wirtschaftsgeschichtlicher Entwicklung der Stadt dankbar.
In einem folgenden Artikel erfahren unsere Leser etwas mehr über die Tabakmühle und seiner damaligen Bedeutung im Erfurter Handel.

Bildunterschriften:
1.: Marktstraße 50 und Allerheiligenstraße 20, vermutliche Ausdehnung der Tabakfabrik Hoffmann und Triebel mit Martstraße 21. (Repro, Institut für Denkmalspflege, Hans Ziller)
2.: In der wissenschaftlichen Zeitschrift der Hochschule für Architektur
und Bauwesen Weimar schrieb schon vor 10 Jahren ein Kollektiv von Professor und Diplomingenieur E. Schmidt über das "Hoffmannsche Haus". Zum Abschluß heißt es: "Es wäre zu wünschen, daß die Bauwerke eine besondere Pflege erhalten, damit sie uns noch lange durch ihre bescheidene Schönheit erfreuen." Wie wäre es, wenn sich unsere Stadtväter einmal näher damit befassen würden? Die Redaktion

(Erfurter Wochenzeitung, 20.09.1967)