In einer kleinen Seitenstraße Erfurts liegt ein eigenartiges Gebäude, dessen Tor folgende Inschrift trägt: "Erfurter Engelsburg". Noch vor einem Jahr wußten nur wenige, daß sie vor einer der wichtigsten Humanistenstätten Deutschlands stehen, von der die berühmten "Dunkelmännerbriefe" in die Welt gingen. Vom Rat der Stadt Erfurt sind im vergangenen Jahre große Teile der "Engelsburg" restauriert worden, und noch Ende 1953 soll sie als Museum der Öffentlichkeit übergeben werden. Die Wiederherstellungsarbeiten haben viel interessante Dinge zutage gefördert. So konnte in dem ehemaligen Humanistensaal durch den Restaurator Richard Hollbach eine Kassetten-Deckenmalerei freigelegt werden, die eine deutliche Anlehnung an Werke Dürers erkennen läßt. Es sind Gouache-Malereien italienischer Schule aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts. Tritt man von der Straßenseite durch das Tor, so steht man zunächst in einem schmalen mittelalterlichen Hof. Eine Inschrift an der Wand macht darauf aufmerksam, daß hier die bekannten Humanisten Eobanus Hessus und Ulrich von Hutten gewirkt haben. Den Humanistenerker benutzte dieser Kreis bei seinen Zusammenkünften. Hier wurden Schriften und Reformen besprochen, geplant und vorbereitet, mit denen die Humanisten kämpferisch in die große nationale Volksbewegung gegen das römische Papsttum eingriffen. Über eine Treppe geht es hinauf zu einer Galerie, die ebenfalls vor dem Zerfall bewahrt wurde. Von 1767 bis 1925 befand sich in den Räumen der "Engelsburg" eine Tabakfabrik, und es wurden ungeachtet jeder kulturellen Bedeutung die Räume verunstaltet. Später geriet die "Engelsburg" vollkommen in Vergessenheit, und es ist jetzt eine dankbare Aufgabe, diese in ganz Deutschland einzigartige Stätte als Museum wiedererstehen zu lassen. Vor dem Eingang des Humanistensaales sind 14 Wappenbilder angebracht, u. a. das Zeichen des Schwans von Eobanus Hessus, das Wappen des Verfassers der "Dunkelmännerbriefe", Crotus Rubianus, der Rektor der Universität Erfurt im Jahre 1520 war, und Ulrich von Hutten.
Eine alte Tür aus der Zeit der Renaissance bildet jetzt den Eingang zum Erker. Die Fronten der "Engelsburg" sind vom Putz befreit worden und zeigen ihr schönes Holzfachwerk. Neben dem Humanistensaal sind noch zwei weitere Räume entstanden, die später die Ausstellungsstücke aus der Humanistenzeit aufnehmen werden. Zwei Menschen haben sich um die Wiederherstellung der "Engelsburg" besonders verdient gemacht: Baurat Reinhold Prauser, auf dessen Initiative die Stadt sich entschloß, die "Engelsburg" der Vergangenheit zu entreißen, und Dr. Abe, der hier interessante historische Forschungsarbeiten einleitete und in dessen Händen die Ausgestaltung als Museum liegt. Über die kulturelle Vergangenheit der "Engelsburg" und die Geschichte der Humanistenkreise erzählte Dr. Abe: Früh-, Hoch- und Späthumanismus nahmen im wesentlichen von Erfurt ihren Ausgang. Die ersten Ansatzpunkte dieser Entwicklung lassen sich bereits im 13. Jahrhundert erkennen. Während die Frühhumanisten nur gewisse Reformen anstrebten und insbesondere verlangten, daß ein eleganteres Latein in Wort und Schrift gelehrt werde, wies der Hoch-Humanismus starke kämpferische Züge auf. Nikolaus Marschalk, einer der bedeutendsten geistigen Repräsentanten der damaligen Zeit (1500), führte einen mutigen Kampf für die wissenschaftliche Lehre und Forschung, die durch eine einzwängende Scholastik erstickt zu werden drohte. In der zweiten Phase des Hoch-Humanismus wandte sich Conrad Mutian gegen dogmatische religiöse Anschauungen und wurde dadurch zu einem Wegbereiter der Reformation. Diesem Kreis gerhörten u. a. die Humanisten Crotus Rubianus, Eobanus Hessus und Ulrich von Hutten an. In der Zeit von 1511 bis 1517 bildete sich ein zweiter Mutianischer Kreis, dem sich auch Euricius Cordus zugesellte. In dieser Periode vollzog sich die volle Hinwendung der Humanisten zur volksreformatorischen Bewegung. Dieser Kreis traf sich ständig in der "Engelsburg", die einem Freund Luthers, dem Arzt und Universitätsprofessor Dr. Georg Sturz, gehörte. Damals entstanden die berühmten "Dunkelmännerbriefe" von Crotus und Hutten. Mit diesen Briefen griffen sie in satirischer Form in einem Streit zwischen Reuchlin und den Kölner Dominikanern ein, die jede freiheitliche Regung unterdrückten. Die Dunkelmännerbriefe sind eine der eigenartigsten Satiren der deutschen Literatur. Nach dem Siege Reuchlins wandte sich unter Eobanus Hessus der Humanistenkreis nationalen, politischen Zielen zu, und in seiner höchsten Stufe entwickelte sich unter Cordius ein sozialkritischer Humanismus, der gegen die menschenwürdige Lage der Bauern schärfste Stellung bezog.
So wurde denn auch der ausbrechende Bauernkrieg von Eobanus Hessus mit Sympathie begrüßt. Die später reaktionär umschlagende Entwicklung der Reformation rief eine bittere Enttäuschung bei Eobanus Hessus hervor, und er verließ Erfurt.
Die Geschichte der "Engelsburg" und der Humanistenbewegung ist ein Teil des deutschen Kulturerbes, weil sie die progressive Volksbewegung der Zeit der Reformation und der Bauernkriege widerspiegelte und aktiv in sie eingriff. Es ist daher zu wünschen, daß sie in der heutigen Pflege unserer nationalen Kultur einen gebührenden Platz einnimmt.
Werner H. Krause
Bildunterschrift: Ein Blick auf die wiederhergestellte Hoffront der "Engelsburg" mit ihrer reizvollen Galerie und dem langen Jahre unter Putz verborgenen, schönen Holzfachwerk.
(IR Nr. 21, 8. Jg. 1953)