Junge Leute in der alten "Engelsburg"

Samstag, 6. September 1969

Zu Gast im Studentenklub der Medizinischen Akademie Erfurt - Traditionsreiche Humanistenstätte neu gestaltet

Wer im ältesten Teil der Stadt Erfurt, dem Viertel um die ehemalige Universität dem gewundenen Lauf der Allerheiligenstraße folgt, wird sehr bald auf die Hausnummer 21 stoßen, die bis zum heutigen Tage in der Geschichte der Stadt eine besondere Rolle spielte. Eine Sandsteintafel kündet davon, daß sich hier die Humanistenstätte "Zur Engelsburg" befindet. Heute wie vor rund 450 Jahren dient sie den Erfurter Studenten als Stätte der Begegnung und Treffpunkt geistiger Auseinandersetzung. Zum Semesterbeginn waren wir hier zu Gast.

Aus gutem Grund werden die mittelalterlichen Räume im angrenzenden "Schwarzen Roß" und "Roten Hirsch" heute von der Medizinischen Akademie als Studentenklub genutzt. Verbinden sich mit diesen traditionsreichen Räumen doch Namen, die den Geist des Humanismus in besonderer Weise repräsentieren: Ulrich von Hutten, Eobanus Hessus, Crotus Rubianus und Conrad Mutianus, der Begründer jener humanistischen Bewegung, die in Erfurt ihren Ausgangspunkt hatte und der wir die berühmten "Dunkelmännerbriefe" verdanken. Nun dürfte zwar nur ein geringer Teil jener "Epistolae obscurorum virorum" in den Räumen um die Engelsburg entstanden sein, Tatsache bleibt jedoch, daß sie ihren Ursprung dem geistigen Klima dieser Stadt, ihrer Universität und dem hier wirkenden Kreis der Humanisten verdanken.
Ein wechselhaftes Schicksal hat die Engelsburg seitdem erlebt, wechselnde Besitzer und Bestimmungen, die jeweils Aufschluß geben über den Geist ihrer Zeit. Nachdrücklich bestätigt dies ihre Chronik, zu der die Nutzer heute ein neues Kapitel hinzugefügt haben - wohl eines der würdigsten in der Geschichte des Hauses. Zu den unrühmlichen Kapiteln zählt wohl jenes aus der Zeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts, als gleichgültige Besitzer die traditionsreiche Stätte in eine Tabakmanufaktur verwandelten, die Gebäude entsprechend ihren kommerziellen Interessen umbauten, bis zur Unkenntlichkeit verwandelten und schließlich verfallen ließen. Denkmalspflegern zu Beginn der fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts blieb es vorbehalten, das Wenige zu retten und umfangreiche Rekonstruktionen vorzunehmen, wobei sich aber bald herausstellte, daß das Gebäude in seiner Substanz bereits nichts Erhaltenswertes mehr aufwies. Während die Engelsburg selbst abgerissen wurde, konzentrierten sich nun die Erhaltungsarbeiten auf die angrenzenden und baulich mit ihr verbundenen Räume im "Schwarzen Roß" und "Roten Hirsch", die ebenfalls von den Humanisten genutzt wurden, wovon noch heute der berühmte Humanistenerker zeugt.

Als Rechtsnachfolgerin der alten Erfurter Universität stieß die Medizinische Akademie bei der Suche nach geeigneten Räumen für einen hauseigenen Klub auf die alten Häuser in der Allerheiligenstraße. Mit finanzieller Unterstützung aus dem Volksvertreterfonds entstand so in den letzten Jahren ein Klub, der - von Studenten miterbaut, mitgestaltet und selbst verwaltet - mehr als "Kellerromantik" und große Vergangenheit bietet: nämlich eine Stätte, in der die echte geistige Auseinandersetzung ebenso eine Heimstatt hat wie eigenschöpferisches Wirken. Zum musischen Klima im Studentenklub, das durch regelmäßige Jazzkonzerte, Lyrikabende, Phonoforen, Vorträge und Begegnungen mit Prominenten geprägt ist, berichtete uns der Klubleiter Götz Nowak: "Unser Anliegen war es, den Studenten nicht nur eigene Räumlichkeiten zu übergeben. Zu den Hausherrenpflichten gehört auch, die Räume sinnvoll zu nutzen, und dies nicht nur rezeptiv als Zuhörer eines Konzertes zum Beispiel, sondern selbst aktiv und schöpferisch."

So wird im Studentenklub zwar auch Bier getrunken, vor allem aber musiziert, gelesen, gestritten, geprobt und gemalt. Neben einem Fotolabor ist ein großzügiges Maleratelier im Entstehen, das allen zur Nutzung offen steht; ein Novum, das nicht alle vergleichbaren Studentenklubs aufzuweisen haben. Bereitwillig öffnet der junge Klub seine Pforten für Ausstellungen Erfurter Maler und Grafiker (die nächste wird der Maler und Batiker A. T. Mörstedt bestreiten); er ist ein Podium für Dozenten der Akademie und damit Kontaktbasis für Lehrkörper und Studenten über den Rahmen der Vorlesung hinaus. Zehn Räume mit Keller, Bar, Weinstube, Vortragsräumen, Gästezimmern und Kaffeestube - alles "im Eigenbau" entstanden, laden ein und erwarben der Engelsburg den Ruf, eine gastliche Stätte für Orchester und Interpreten aus unserer Republik zu sein.

Häufige Gäste sind die Jenaer Oldtimer, das Erfurter Kabarett und bekannte Solisten, die im Programm des neuen Semesters wie in den vorangegangenen nicht fehlen dürfen.
Ein neues Studienjahr hat inzwischen begonnen, und mit ihm haben die Erfurter Studenten wieder Besitz von ihrer Engelsburg genommen. Die Veranstaltungspalette ist reich: Es gilt, einen besonderen Republikgeburtstag würdig vorzubereiten. Und wenn, wie in allen Bereichen, in diesen Tagen Rückschau gehalten wird über das Geleistete, so fließt in die große Bilanz der Beitrag der Erfurter Studenten mit ein, sich eine Stätte der Begegnung geschaffen zu haben, würdig großer Traditionen, der Gegenwart verpflichtet - ein neues Kapitel in der Geschichte der alten, jungen Engelsburg.

L. Seidler

Bildunterschrift: Im März vergangenen Jahres wurde der Erfurter Studentenklub seiner Bestimmung übergeben. Ein Eröffnungskonzert mit den "Jenaer Oldtimer" bildete den Auftakt, seitdem zählen gutbesuchte Jazz- und Lyrikveranstaltungen zum ständigen Klubprogramm. Dann rückt man in den stimmungsvollen Kellerräumen mit uralten Gewölben etwas enger zusammen, so daß rund 350 Gäste Platz finden.

(Thüringer Tageblatt, 06.09.1969)