Breite Diskussion über die künftige Verwendung der Humanistenstätten im "Klub der Intelligenz"
Erfurt. In breiten Bevölkerungskreisen wurde berechtigt die Frage diskutiert: "Was wird mit der Humanistenstätte "Zur Engelsburg" und warum wird sie nach ihrer Restaurierung nicht der Öffentlichkeit zugängig gemacht?" Der Klub der Intelligenz griff dieses Thema auf, und in der sich monatlich wiederholenden Veranstaltung unter dem Motto "Worüber wir in Erfurt sprechen müssen" wurde unter starker Anteilnahme vieler mit der Denkmalspflege vertrauter Fachleute, interessierten Erfurtern und dem Leiter der Abteilung Kultur beim Rat der Stadt, Schulz, eine offene und kritische Aussprache geführt.
"Engelsburg" wurde nicht historisch getreu restauriert
Kollege Schulz stellte fest, daß es die seinerzeit verantwortlichen Stellen beim Rat der Stadt nicht verstanden haben, zu den zur Mitarbeit bereiten Fachleuten und interessierten Bevölkerungskreisen einen engen Kontakt herzustellen, um die bereits starkem Verfall preisgegebenen Humanistenstätten wieder historisch getreu zu restaurieren. Bereits im Jahre 1937 war eine gründliche Restaurierung der "Engelsburg" vorgesehen, doch unter der Naziherrschaft kam der Plan nicht zur Durchführung. Der Rat der Stadt befaßte sich im Jahre 1951 eingehend mit diesem brennenden Problem, so daß Ende 1952 mit der Restaurierung begonnen werden konnte. Es wurde nun der schwerwiegende Fehler begangen, nicht grundlegend von unten zu beginnen, sondern man gestaltete erst einmal die Fassade neu, wobei ein schlechter Putz verwendet wurde, der den eigentlichen bestimmenden Charakter des Gebäudes, das Fachwerk, verdeckte. Bei den Renovierungsarbeiten im Inneren beachtete man nicht, daß die Höhe des Fußbodens zu den Fenstern in einem Mißverhältnis stand, und man behalf sich mit dem Legen von Steinplatten, die für die Räume wenig geeignet sind. In den Räumen wurde überdies unverständlicherweise das Fachwerk zum Teil freigelegt, so daß ein optisch schlechter Eindruck entstand. Der wertvolle Humanistenerker, der in seiner Bauart eine große Seltenheit darstellt, wurde durch Wappenmalereien an den Wänden nicht gerade verschönt. Der größte Fehler wurde jedoch begangen, als man fast beim Abschluß der Bauarbeiten bemerkte, daß die gesamte Balkenkonstruktion der Decke im höchsten Grade morsch war, weshalb bei Besichtigungen der oberen Räume nur eine Last von 20 - 25 Personen zulässig ist. Wenn man auch die Schwierigkeiten einer historisch getreuen Restaurierung wegen des Mangels an Bauzeichnungen und anderen Unterlagen nicht übersehen kann, so bleibt doch zu bedenken, daß dieses gotische Gebäude aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mehr oder weniger in den Zusand versetzt wurde, wie er bestand, als dort von 1760 - 1870 eine Tabakfabrik das "aromatische Kraut" verarbeitete.
Kollege Schulz führte weiter aus, daß während der Dauer der Renovierungsarbeiten von 1952 - 1954 die notwendige Hilfe und Anleitung des Amtes für Denkmalspflege sehr dürftig war. Auch verschiedene Kommissionen aus Berlin ließen es an praktischer Unterstützung mangeln. So kam es, daß rund 100 000 DM, die an anderen wertvollen Kulturdenkmälern ebenso gut hätten verwendet werden können, in dieses Objekt gesteckt wurden, ohne daß ein nutzbringender Erfolg dieser zweifellos restaurierungsbedürftigen und wertvollen Kulturstätte für die Stadt Erfurt und deren Bevölkerung herausgesprungen ist. Koll. Schulz teilte mit, daß in diesem Jahr die Arbeiten zur Fertigstellung der Deckenkonstruktion wieder aufgenommen werden und die Bevölkerung um Vorschläge zur künftigen Nutzung der Humanistenstätte geben wird. Der gesamte Fragenkomplex wird in einer der nächsten Stadtverordnetenversammlungen ausführlich behandelt werden.
Aus der Diskussion: Warum Humanistenstätten nur als Gedenkstätte und nicht als Museum geeignet?
In der lebhaften Diskussion verwies Museumsdirektor Dr. Kunze nochmals auf die bei der Restaurierung begangenen "Sünden", wobei er betonte, daß man in diesem Fall das wiederherzustellende Gebäude nicht im Rahmen des gesamten Stadtbildes betrachtet hatte und durch den Abriß des vorgelagerten Gebäudes in der Allerheiligenstraße den Charakter dieses interessanten mittelalterlichen Straßenzuges zerstörte. - Dr. Kunze lehnte an Hand unwiderlegbarer Argumente die von vielen gewünschte Nutzung der Humanistenstätten als Museum kategorisch ab, da die dafür benötigten Ausstellungsstücke, in der Hauptsache alte Schriften und Bücher, räumlich gesehen nur äußerst ungünstig untergebracht werden könnten, abgesehen davon, daß man diesem Gebäude eine große Gewichtsbelastung nicht zumuten kann. Die in der Universitätsbibliothek fachmännisch gelagerten Bücher und alten Schriften kann man außerdem auf keinen Fall dem Einfluß des Lichtes aussetzen. Dr. Kunze plädierte für eine würdige Ausgestaltung der Räume als Gedenkstätten der Humanistenbewegung in Erfurt. Dieser Meinung schloß sich auch der Historiker Unionsfreund Dr. Abbe an, der sich bereits in einem vor längerer Zeit abgegebenen Gutachten ausschließlich für die Verwendung "Engelsburg" als Gedenkstätte ausgesprochen hatte.
Einen bemerkenswerten Vorschlag unterbreitete Dr. Tosetti, der dafür plädierte, daß nach vollständiger Wiederherstellung der "Engelsburg" die entsprechend würdig gestalteten Räume sehr gut als Sitz des Rektors der Medizinischen Akademie verwendet werden könnten, da mit einem Wiederaufbau der alten Universität in den nächsten Jahren nicht gerechnet werden kann. Damit würde zweifellos neben einer guten praktischen Verwendung der Erfurter Humanisten mit der alten Universität wieder aufleben und der Gedanke der Humanität durch die Medizinische Akademie würdig weiter getragen werden. Die Teilnehmer beschlossen, diesen Vorschlag dem Rat der Stadt vorzutragen.
(Thüringer Tageblatt, 19.01.1956)