Studentenklub in der Engelsburg

Samstag, 10. März 1979

Wenn Steine reden könnten

Geht man in der Erfurter Altstadt vom Domplatz oder vom Fischmarkt die Marktstraße - oder Breite Straße, wie sie im Mittelalter hieß - entlang, kommt man zur Allerheiligenstraße. Nach ein paar Schritten kann man hier an einer aus Feldsteinen gefügten Mauer eine Pforte mit der Steininschrift "Humanistenstätte Zur Engelsburg" entdecken.
Anfan des 16. Jahrhunderts bildeten sich in der Nähe der Erfurter Universität, die von 1392 bis 1816 bestand, mehrere Humanistenzirkel - Disputationsgruppen fortschrittlich gesinnter Gelehrter. Einer dieser Treffpunkte war der Gebäudekomplex Allerheiligenstraße 20. In dem noch erhalten gebliebenen "Schwarzen Roß", einem Nebengebäude der Engelsburg, tagte der 1511 gebildete Erfurter Humanistenkreis. Er stand unter der geistigen Führung des an der Universität lehrenden Poeten Eobanus Hessus, der hier auch wohnte. Der mit starken Holzbohlen ausgekleidete Versammlungsraum gehört zu den wenigen Bohlenstuben, die es noch in Thüringen gibt. Wegen seines Vorbaus wird er allgemein auch als Humanistenerker bezeichnet.
Die Erfurter Humanisten, die auch mit dem bedeutenden Denker Erasmus von Rotterdam in Kontakt standen, wandten sich mit großem Engagement gegen die Wissenschaftsfeindlichkeit der kirchlichen Scholastiker. Publizistisch taten sie das vor allem in meisterhafter Weise mit den "Epistolae obscurorum virorum", den Dunkelmännerbriefen. Dieses kleine Büchlein war eine herrliche Satire auf die reaktionäre mittelalterliche Denk- und Betrachtungsweise. Zwei seiner Verfasser, der führende Theoretiker der Reichsritterschaft Ulrich von Hutten und der spätere Rektor der Erfurter Universität Crotus Rubianus, standen dem Erfurter Humanistenkreis nahe oder gehörten ihm an.
Heute hat der Studentenklub der Medizinischen Akademie Erfurt sein Domizil in der "Humanistenstätte Zur Engelsburg". Neben dem "Schwarzen Roß" gehören zu dem in den Jahren 1965 bis 1968 ausgebauten Kulturzentrum der künftigen Ärzte auch das angrenzende Haus "Zum Roten Hirsch" sowie ein schöner romanischer Keller. Dieser Keller könnte ein Überrest der 1125 erwähnten ersten Erfurter Krankenanstalt sein. Denn auf dem Gelände der Engelsburg und der benachbarten Allerheiligenkirche befand sich in dieser Zeit ein Kloster der Augustiner, dem ein Hospital angeschlossen war. Die heutigen Bauten entstanden nach dem Stadtbrand von 1221.

W. T.

(Neues Deutschland, 10./11. 03.1979)