Im Heute aufgehoben

Samstag, 10. Januar 1970

Die Engelsburg - Tradition und Gegenwart

Alte Dächer, grobgefügtes Mauerwerk, eine Fachwerkfassade mit Erker. Ein verträumter Winkel inmitten unserer pulsierenden Stadt. Die Zeit scheint stillzustehen. Doch das Bild trügt. Zu allen Zeiten war das Leben eng verwoben mit dieser, im ältesten Zeit unserer Stadt gelegenen ehrwürdigen Stätte, der "Engelsburg". Nur noch in Chroniken steht geschrieben vom Ursprung - jener "Elendsburg", der Zuflucht erkrankter Reisender, an der Stelle, wo einstmals die bedeutendste Binnenhandelsstraße Mitteleuropas in die Stadt mündete.
Doch nicht aus jenen Tagen rührt der Ruf dieser Stätte, der weit über die Stadtmauern hinausreichte. Ihn begründeten Männer wie Helius Eobanus Hessus, Euricius Cordus, Crotus Rubianus und Ulrich von Hutten vor nahezu 450 Jahren. Von hier aus sandten sie Licht in das Dunkel ihrer Zeit. Mit den "Epistolae obscurorum virorum", den Dunkelmännerbriefen, brandmarkten sie auf derb-satirische Weise das Wesen und Treiben des Pfaffentums. Von der Engelsburg aus knüpften diese Männer, die Begründer der humanistischen Bewegung in Erfurt, die Fäden zu den fortschrittlichen Geistern ihrer Zeit.
Der Freundeskreis um den Erfurter Universitätsgelehrten Hessus machte das Haus "Zur Engelsburg" zu einem geistigen Mittelpunkt von nationaler und internationaler Bedeutung, zu einer Stätte der Begegnung, der vorwärtsdrängenden geistigen Auseinandersetzung, zu einer Waffenschmiede der frühbürgerlichen Revolution.
Und heute? Das einstige Haus "Zur Engelsburg" mußte abgerissen werden. Nur noch das Haus "Zum roten Hirsch" und das Haus "Zum schwarzen Roß", in das der Rektor und Universitätsmediziner Georg Sturz im Jahre 1520 das Humanitätszimmer mit dem vorstehenden Erker einbauen ließ, sind uns erhalten geblieben.
Doch in diesen Gebäuden wurde der einstige Zweck für unsere Gegenwart wiedergewonnen - Stätte geistiger Auseinandersetzung zu sein. Im März 1968 öffnete hier der Studentenklub der Medizinischen Akademie seien Pforten. In dreieinhalbjähriger Bauzeit schufen sich die Medizinstudenten ihren Treffpunkt. Lyrikabende, Phonoforen, Jazz-Veranstaltungen, Vorträge, Begegnungen mit Prominenten - vielfältig ist das Programm, das die neun Mitglieder der Klubleitung allmonatlich erarbeiten. Und die zehn Räume, mit Keller, Bar, Weinstube, Vortragsräumen, Gästezimmer und Kaffeestube, sind stets besucht. Ein Malkabinett und ein Fotolabor sind heute noch Plan.
Die heutige "Engelsburg" dient der geistig-kulturellen Bildung künftiger Mediziner, dient der Persönlichkeitsbildung der Menschen unserer Zeit, im Sinne der Verflechtung der Anforderungen unserer sozialistischen Gegenwart mit den Traditionen positiver deutscher Geschichte. Im Sinne des Humanismus.

Text: Ursula Hoffmann. Foto: Roswitha Riedel

(Das Volk, 10.01.1970)