Ein Besuch in der ehrwürdigen Engelsburg

Donnerstag, 22. Juni 1961

Bekannte Erfurter Humanistenstätte durch Führungen wieder zugänglich
Umfangreiches Archivmaterial

Jeder alte Erfurter kennt die von hohen Mauern eingesäumte schmale Gasse, die hinter der Allerheiligenkirche die Marktstraße mit der Allerheiligenstraße verbindet. Lange war der Durchgang versperrt. Aber seit einiger Zeit öffnet sich bei Stadtführungen des Deutschen Reisebüros das Eisengitter an der Marktstraße und gibt den Zutritt frei zu einem kulturgeschichtlich bedeutsamen Gebäude, der "Engelsburg", bekannt als Wirkungsstätte und Hochburg der Erfurter Humanisten.
Über eine Reihe von Jahren zogen sich die Erhaltungsarbeiten an dem mittelalterlichen Gebäude hin, das im 15. Jahrhundert auf den Fundamenten eines 1125 erbauten Hospitals errichtet wurde, und weitere Jahre nahm die museale Ausgestaltung der Räume in Anspruch. Dank der Bemühungen der Abteilung Kultur beim Rat der Stadt ist es nun doch noch möglich geworden, im Rahmen der "iga" allen kulturhistorisch interessierten Besuchern unserer Stadt eine Stätte zu zeigen, die eine bedeutsame Epoche der deutschen Geistesgeschichte widerspiegelt.
Sie ist vor allem gekennzeichnet durch Herausgabe der berühmten Dunkelmännerbriefe, deren Verfasser die Erfurter Humanisten Crotus Rubianus, Eobanus Hessus sowie Ulrich von Hutten waren, dessen Erfurter Aufenthalt im Jahre 1506 belegt ist.
Mit den Mitteln beißender Satire und des Witzes wurde in diesen Briefen der mittelalterlichen Scholastik der Kampf angesagt und Unwissenheit, Dummheit und Sittenlosigkeit des klösterlichen Lebens und Treibens angeprangert. Die Bilder der Verfasser wie auch der anderen Angehörigen des Erfurter Humanistenkreises schmücken das Kernstück der Engelsburg, das sogenannte Humanistenzimmer mit dem Humanistenerker.
Der ehrwürdige Raum ist mit einigem Mobilar im Stil der Renaissance ausgestattet und erhält seinen besonderen Schmuck durch die alte Kassettendecke mit Gemälden in Gouache-Malerei, die von dem Erfurter Restaurator Richard Hollbach wieder freigelegt wurden, und biblische und mytologische Szenen darstellen. Einfach und würdig präsentiert sich auch der Vorraum mit dem prachtvollen Renaissanceportal und den an den Wänden angebrachten 14 Wappen der Erfurter Vertreter des Hochhumanismus.
Fesselt das Humanistenzimmer vor allem durch seine besondere Atmosphäre als Tagungsstätte berühmter Vertreter der deutschen Geisteswelt, die hier ihre "königlichen Sitzungen" abhielten, so sind die beiden anderen Säle ganz darauf abgestellt, den Besuchern ein möglichst abgerundetes Bild von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert und von dem Wesen und Wirken des Humanismus, speziell der Erfurter Humanisten, zu geben.
Viel wertvolles Material, zum Teil aus den reichen Beständen des Stadtarchivs und der Wissenschaftlichen Bibliothek, wird hier teilweise als Reproduktionen in Vitrinen gezeigt, ergänzt durch alte Stiche, Bilder und Holzschnitte an den Wänden. Der Besucher erfährt zum Beispiel, daß Erfurt um 1500 mit 18 680 Einwohnern die sechstgrößte Stadt Deutschlands war, und aus einer Darstellung über die soziale Struktur der Bevölkerung, daß nur sieben Prozent der Einwohnerschaft dem Großbürgertum angehörten, das aber 66,5 Prozent des Vermögens in den Händen hatte. Viel Wissenswertes erfährt der Besucher auch über die alte Erfurter Universität anhand von Urkunden und Dokumenten sowie ausgezeichneten Reproduktionen der Universitätsmatrikel. Weiteres Interesse beanspruchen die Frühdrucke von Werken der Erfurter Humanisten Celtis, Marschalk, Hessus, Jonas und anderen. Ein Exemplar der "Orthographia" von Nikolas Marschalk zeugt von der Bedeutung des Erfurter Buchdruckgewerbes, denn dieses Werk, gedruckt 1501 bei Wolfgang Schenk, war das erste in deutscher Sprache herausgegebene Lehrbuch der griechischen Sprache.
Stark beeindruckt von dieser Stätte, die einen so guten Ausschnitt aus dem reichen deutschen Kulturerbe vermittelt, verläßt der Besucher wieder die Räume und wirft noch einen Blick in den mittelalterlichen Hof der Engelsburg, der zur Zeit noch einer grünen Wildnis gleicht. Doch soll, wie die TNN hörten, sich auch dieses Bild bald ändern.

Walter Josef

(Thüringer Neueste Nachrichten, 22.06.1961)